Nr. 315

32 Fehlgeburten auf dem Weg zu Glück

Zum zweiunddreißigsten Mal startete ich den Song. Der hier klang ein bißchen nach Black Sabbath, ich hatte gedacht, damit muß doch was gehen. Mit mir muß was gehen! Wo ein Wille ist, ist auch Weg, und so. Oder?

Zum zweiunddreißigsten Mal raunze ich irgendwelche Worte ins Mikrophon, die ich mir vorher auf einem Spickzettel notiert hatte, irgendwas mit »Ich will mich nicht vergessen«. Das war mir eingefallen, als ich wie doof in der Küche stand und nicht mehr wußte, was ich hier wollte. Da kann einen schon mal Angst vor Demenz und Alzheimer packen. Daß einem die Birne absäuft.

Zum zweiunddreißigsten Mal sang ich also zu einem von insgesamt 19 Songs, die wie Blei auf meiner Festplatte lagen und mich täglich anstarrten, nahm mit dem Mac auf, was so aus mir herausfloß. Mir fiel ein, daß ich noch den Müll runterbringen mußte. Der Abwasch wartete. Ich so gerne zeichnen würde wie Bill Sienkiewicz. Kratzte mich am Sack. Stank nach Schweiß.

Zum zweiunddreißigsten Mal erschauerte ich, als ich anschließend auf den PLAY-Button drückte. Was ich mir da zusammengesungen hatte, erinnerte an DDR-Rock, Karat, City, Renft und ähnlich unterirdische Grütze. Ein bißchen Udo Lindenberg für Arme? Ich schrie FICK DICH! und killte die Schleimspur. NIEMAND durfte je zu hören kriegen, was ich da aufgenommen hatte! Nicht mal ich.

Ich stand auf, ging aufs Klo, dann in die Küche, wo ich eine Banane aß. Diesmal hatte ich nicht vergessen, was ich mir vorgenommen hatte. Vergessen konnte ich jedoch mich selbst, dämmerte mir. Zumindest was die Singerei anging. Dann legte ich mich im Wohnzimmer auf den Boden und dachte nach.

OK. Die Nummer war durch. Jahrelang hatte ich mich dagegen gesträubt, meiner Liebe zu sagen: Du langweilst mich! Ich kenne all Deine Geschichten, Du meine auch. Auch im Bett läuft’s nicht mehr. Immer der gleiche Geschmack, ganz egal ob von vorne oder von hinten. Das kann so nicht weitergehen, bis ich sterbe. Es ist besser, wenn ich ausziehe. Oder Du.

Eine Geburt ist eine schmerzhaftes und prägendes Erlebnis, so sagen die Frauen. Und erzählen auch, daß dieser Schmerz zum Schluß jubelnde Glücksgefühle erzeugen kann - oder tränenreiches NIE WIEDER! So habe ich das jedenfalls in Erinnerung. Dazu kann ich Unpassendes beitragen: Einen Songtext zu schreiben und mir dazu einen Gesang zu schnitzen, ist für mich auch eine Geburt. Selbst wenn sie in erster Linie aus Brainfuck besteht.

Früher schwitzte, ächzte und zitterte ich und war gleichzeitig von Erbarmungslosigkeit getrieben, mein musikalisches Kind zur Welt zu bringen. Fühlte das Glück, wenn großartige Ideen - oder was ich dafür hielt - aus mir herausquollen, und sei’s mit Gewalt. War stolz auf meine Ableger.

Und gestern: Zum zweiundreißigsten Mal dachte ich NIE WIEDER! Zweiunddreißig Fehlgeburten an einem Tag, kein Glück, sondern nur Angstschweiß, das brachte das Faß zum Überlaufen. Kein musikalischer Sex mehr mit mir selbst, entschied ich.

Seit einem halben Jahr schon saß ich an diesen 19 Songs, mit denen ich mich paaren wollte. Heraus kamen Schmerzen, Schreie und Ohnmachtsgefühle. Angst. Und der Wunsch, das alles hinter mich zu bringen. So wie schon in den zehn Jahren davor, wenn ich bei anderen Musikern in deren Songs steckte. Wie ich es auch tat, wie sehr ich auch schwitzte und ackerte, es kam mir nicht. Wollte nicht länger die gleichen Schwüre, Geräusche und Bekenntnisse von mir geben wie schon so oft zu zuvor, aber bessere oder auch nur andere fielen mir nicht ein.

Das NIE WIEDER schrie jeden Tag stärker in mir, und gestern reichte es. Ich griff meine Liebe beim Schlafittchen und zog ihr die Axt über den Kopf. Sie gab keinen Mucks von sich, ohne jede Gegenwehr war sie gleich weg. Das Blut sprudelte aus ihrem Schädel, ich fühlte mich besudelt und doch gleichzeitig glücklich ob meiner Heldentat. Ich hatte dem Elend ein Ende gemacht.

Keine Songfuck mehr mir mir, keine Bands, kein Arschwackeln auf irgendwelchen Bühnen vor Leuten, die das gut finden oder sich langweilen. Oder besoffen durch die Gegend taumeln, wenn sie nicht gleich vor der Bühne einschlafen. Es hat durchaus was Befreiendes, von Dingen zu lassen, deren Sinn man nicht mehr zu entziffern weiß.

Da draußen müssen noch andere Dinge sein, die auf mich warten. Schätze, die es zu heben gibt. Ich will keine Zeit mehr verschenken, die Zeit wird knapp. Karl, Du bist jetzt im Winter des Lebens, hatte mir Felix neulich erklärt, und da ist was dran. 61 Jahre sind durch, mit ein bißchen Glück kommen noch 20 hinzu. Dann zittern die morschen Knochen, und jeder Tag ohne Arztbesuch ist ein Geschenk.

Na gut. Ich nahm den Bleistift und zeichnete einen Kreis. Und darin ein Quadrat. Und darin ein Dreckeck. Fühlte sich gut an. Sollen andere in meinem Alter sich mit dem Netflix-Angebot begnügen und für ihre Zukunft Ball- und Kartenspiele mit anderen Rentnern ins Visier nehmen. Oder Punk-Kaffeefahrten zu Festivals, die die Erinnerung wachhalten an Zeiten, in denen man die Welt erschütterte oder sich das zumindest einbildete. Ich hingegen zeichne Strichmännchen und Weltraummonster und arbeite an meinem ersten Liegestütz.

Es ist herrlich, ganz von vorne anzufangen. Da liegt das NIE WIEDER noch in ferner Zukunft.

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