Die Steinwurfweite unterschreiten
Bei den Chaostagen von Heidelberg
Sommer 2013. Ich saß in meinem Bunker in Hamburg-Altona und langweilte mich zu Tode. Das Internet kotzte mich jeden Tag ein Tweet mehr an, und auf Facebook jammerte ich die Leute voll, dass man den ganzen Laden in die Luft sprengen sollte. Ich konnte gar nicht so viel Currywürste essen, wie ich Hunger nach echten Erlebnissen hatte.
Da kam die Nachricht von Chaostagen in Heidelberg gerade recht! Ich packte die Gelegenheit beim Schopfe und machte mich auf dem Weg Richtung Ländle.
Bevor ich euch aber von meiner Reise erzähle - und vom Sex mit Sozialwissenschaftlern, minderjährigen Punquetten und Polizistinnen, von Hotelübernachtungen und Verbrüderungen mit der Polizei, muss ich erst mal meinen Baseballschläger aus der Hose holen. Es gibt noch ein paar Dinge zu klären, und wenn Du klare Worte nicht magst, dann solltest du dich jetzt verpissen.
Ich bin Jahrgang 1960, Punk-Spätlese 1981. Ich habe erlebt, wie wahre Armeen von Großmäulern - ich inbegriffen! - die Fresse aufrissen und sich ein paar Jahre später in die Büsche schlugen. Habe ich auch getan. Ich bin kein Heiliger, was für ein Glück! Sonst müßtet ihr mich wohl erschießen.
Aber wenn ich die Bande Ehemaliger sehe, die in ihrer Stammkneipe sitzt (bei einigen heißt sie Facebook!) und in gepflegter Runde über »Penner mit bunten Haaren« lamentiert, dann weiß ich nicht, ob ich mich schämen, aufregen oder lieber gleich ins Schwert stürzen soll.
Sie gönnen ihren Nachkömmlingen nicht den Vollrausch, nicht die Dummheit und auch nicht ein paar imaginäre Steinwürfe auf Chaostagen. Sie nennen sie »Abziehbilder«, »Kindergarten« und bestehen darauf, dass IHR Punk »damals« ganz, ganz anders war. Bla. Bla. Bla.
Und wenn sie mitkriegen, daß irgendwer zu »Chaostagen« aufruft, dazu noch in Pusemuckelshausen oder sonstwo in der Pampa, dann klopfen sich die Punkrichter auf die Schenkel, lachen, bis die Tränen nur so spritzen und die Biere wackeln. Aus der Nähe wird sich keiner den Zirkus anschauen wollen, denn sie WISSEN ja, dass es sich hier nur um dreifach gequirlte Scheiße handeln kann.
»Du bist reichlich spät dran. Jetzt, wo alle damit aufhört haben, machst Du auf Punk!«
Das mußte ich mir von einem Typen mit halblangen, schwarzen Haaren und verschwitztem Gesicht anhören, als für mich im September 1981 der Punk begann. Der Kerl war damals schon 28, rauchte eine Gauloises nach der anderen und hielt sich für sehr belesen und einen echten Kulturkenner. Daß ich ihm für sein überhebliches Gelaber nicht aufs Maul gab, lag daran, daß ich nicht wußte, wie das ging. Verdient hatte er es.
Die Punks, die ich in den Wochen darauf kennenlernte, waren mittlerweile keine mehr, sondern träumten davon, mit einer »Armee« der Welt die Fresse zu polieren. Als Skinheads - weil die nachwachsenden Neu-Punks in Wahrheit »Hippies mit bunten Haaren« seien.
Genau diese »Hippies mit bunten Haaren« beklagten sich ein paar Jahre später über die Punk-Generationen nach ihnen. Sie nannten sie »Pennern mit bunten Haaren«. Ächz!
Das habt ihr ein paar Zeilen darüber schon mal gelesen, richtig? . Mit genau dieser Etikettierung werden seit nunmehr 30 Jahren nachfolgende Punk-Jahrgänge von den jeweiligen Altvorderen versehen.
Das klingt langweilig, ist es auch.
Niemand sollte sich darauf verlassen, was die Alten über die Jungen sagen - weil die meisten Alt-, Ex- und Ehrenelche in ihrer eigenen Jugend keine Peinlichkeit, keine Dummheit und kein Klischee ausgelassen haben! Sicher, jeder besorgt sich’s auf seine Weise. Aber bereits 1980 galt die pöbelnde Punk-Jugend in den Augen der erwachsenen Allgemeinheit als ein verdorbener, ungewaschener und betrunkener Haufen.
Die Stromlinienförmigen standen mit verschränkten Armen am Straßenrand und rümpften die Nase über das bunte, asoziale Pack. Um sich anschließend zuhause mit Hansa Pils zuzuschütten. Oder in der Familie ein paar erzieherische Schläge auf den Hinterkopf zu verteilen. Oder beides.
Zum Straßenrand gesellten sich nach und nach die Punk-Aussteiger hinzu. Sie klammerten sich an ihre neuerworbene geistige Aktentasche und bildeten sich was ein auf den verbliebenen Rest schwarz gefärbte Kurzhaarfrisur und ihre drei Badges. Faselten davon, den WAHREN Punk zu verkörpern. Denn Punk, das sei ja eine »Einstellung« und keine Frage der Uniform!
Die Punk-Rezeptur, billig wie sie ist, scheint somit ein ewiges Erfolgsmodell zu sein: Die Vernünftigen, die Gebrochenen, die Funktionierenden finden Punks scheiße!
Ok, ich weiß, dass die Nummer über die Jahre ganz schön Patina angesetzt hat. Punk in seiner vollen Explosivität, das ist lang zurückliegende Vergangenheit. Punk ist nicht mehr HEISS, sondern ALT. Abgestandene, durchgefurzte Scheiße.
Keine Scharen von Mitläufern mehr, nicht in der Medien- und Modeindustrie, nicht auf Schulhöfen. Niemand will mehr, irgendwie »dazugehören« oder »punkig« sein. Futsch der mystische Schleier, das »Geheimnis«, das Punk umgab. Punks sind nichts anderes als Hungerleider, die in der Umgebung von Bahnhöfen ein bisschen Geld schnorren. Bunthaarige Penner. Basta!
Aber es bleibt das unangenehme Gefühl, daß es FALSCH ist, wie die fast schon vergessenen Muppets-Opis von oben herab auf die Folgen einer Idee herunterzurotzen, deren maßgebliche, idiotische Spielregeln niemand anders als WIR SELBST in den Achtzigern in die Welt gesetzt haben!
Die heutigen Punks sind nicht länger die Kinder der ehemals verhaßten Gesellschaft, nein, sie sind nun UNSERE Kinder oder gar Enkel, weil sie nichts attraktiver finden, als UNSEREN Punk in der Gegenwart nachzuspielen. Auch wenn das manchmal ganz schön in die Hose geht.
Die, auf die heute mit Steinen geworfen wird, würde es nicht geben, wenn WIR nicht vor 30 Jahren den Punk-Max gemacht hätten!
Um herauszufinden, wie die Punk-Meute im Jahr 2013 von innen tickt, reichten mir nicht meine schlaue Gedanken zum Thema. Ich musste die distanzierte Beobachterposition verlassen. Ihnen auf die Pelle rücken, bis ich das Weiße in ihren Augen sehen konnte.
Was taugt dazu besser als ein öffentliches Punk-Treffen, großspurig als »Chaostage« bezeichnet? Die Konfrontation des gemeinen Punks mit der Öffentlichkeit. Wenn sie aus ihren versifften Buden herauskommen, ihre hundeverseuchten Bauwagenplätze und winzigen, gammeligen Kneipen verlassen. Oder aus schnuckeligen Kinderzimmern mit »Nazis raus«-Aufkleber am Bett.
Ich wollte der stinkenden Punk-Leiche ins jugendliche Gesicht schauen. Das Theaterstück SEHEN, das Punks im Jahre 2013 aufführen. Auch wenn klar war, dass es sich eher um Provinztheater handelte.
In den Achzigern reiste ich viel per Anhalter. Das war die allgemein übliche Punk-Reisepraxis. Wer hatte schon ein Auto?
Mein Reiseplan des Jahres 2013 sah anders aus. Mit 52 hatte ich gelernt, die Annehmlichkeiten der Dekadenz zu schätzen. Dank Bahncard100 würde es mit dem ICE nach Heidelberg gehen. Ein gepflegte Hotel in Veranstaltungsnähe war schon gebucht – mein Rücken wäre nicht begeistert von der Idee gewesen, die Nacht im Park zu verbringen.
Ein von der Natur des Straßenpunks sowie chaotischen Treffen faszinierter Soziologe der Uni Dortmund war ebenfalls mit an Bord. Freitag nachmittag saßen Oliver Herbertz und ich im Zug nach Heidelberg.
Als wir gegen 16 Uhr ab Zielbahnhof ausstiegen, erwartete uns am Bahnhofsausgang ein uniformiertes Empfangskommando, das nach unseren (unedlen?) Absichten fragte. Die Ausweise wurden per Funk einer genauen Inspektion unterzogen.
Ich fragte mich: Würden sie den mächtigen »Meister des Chaos« enttarnen? Jene Figur, die eigenhändig mehrere Male Hannover in Schutt und Asche gelegt hat? Würde man uns unter aufgeregten Rufen (»Wir haben ihn! Schnell! Kabelbinder!) festsetzen und anschließend die BILD-Zeitung informieren?
Nein, nichts dergleichen: Opa Kalle (mit grauem Bart) und Sozi-Oli (mit grünem Iro), wurden nach ein wenig Geplauder mit freundlichen Worten verabschiedet. Wir waren ja nicht die Klientel, die sie auf dem Kieker hatten. Wir waren brav und UNWICHTIG. Angebliche Ruhmestaten in der Punk-Steinzeit gingen den Hütern von Sicherheit und Ordnung am Arsch vorbei. Wie schade. Keine Gelegenheit, sich ein bißchen künstlich aufzuregen!
Nach einem kurzen Zwischenstopp im Hotel (herrlich, das dauernd zu erwähnen!) machten wir uns daran, die brandgefährlichen Chaostage aufzuspüren. Oli hatte sich angenehmerweise bereits im Vorfeld mit den örtlichen Gegebenheiten auseinandergesetzt, so daß wir bald darauf am Bismarckplatz auf eine Trüppchen Punks trafen. Die hatten sich im Schatten eines Baumes niedergelassen hatte, direkt am Bismarckdenkmal. Eindrucksvoll war das nicht, aber es war schließlich erst Freitagnachmittag.
Aus dem Dutzend Buntköppe wurden im Laufe der Zeit eine betrunkene Horde von vielleicht 30 schwankenden Brüllaffen. Die Insassen zweier Wannen beäugten das Getier mißtrauisch und verfolgten in gebührendem Abstand und bei laufendem Motor die Enwicklung. Erinnerte mich an das nervöse Scharren von Hufen. Allzeit bereit, sozusagen.
Interessiert verfolgte ich die allmähliche Rückentwicklung des Pöbels ins Primatentum. Ich wechselte mit dem einen oder anderen ein paar Worte. Irgendwann wurde es mir zu langweilig und ich startete zu einem kleinen Spaziergang durch die Fußgängerzone. Eis essen und so.
Während ich eine Weile durch die City flanierte, lief mir das Cop-Trio über den Weg, das uns am Bahnhof in Empfang genommen hatte. Zwei Männer, eine Frau. Die junge Polizistin strahlte mich an und ich lächelte zurück. Das wiederholte sich im Laufe der folgenden Stunde einige Male, und ich überlegte mir, ob es Spaß machen würde, mich in eine Polizistin zu verlieben. Sex mit einer Sozialarbeiterin hatte ich schon, mit einer Gesetzeshüterin noch nie.
Zurück am Bismarckplatz, riskierte ich einen genaueren Blick auf die tobende und grunzende Meute.
Da hatten wir z.B. die eher Älteren, denen ihre lange Punk-Karriere ins Gesicht und auf die Haut geschrieben stand. Mit rauher Stimme irgendwelchen Mist grölend, oder auch ein Sauflied, kamen sie nicht sehr punkstylisch daher. Sie gaben den lebenden Beweis für die These ab, daß wuschige Haare, schmutzig-zerfetzte Klamotten und ein Stoppelbart junge Männer zu verwegenen Helden machen, einen dieser Look aber spätestens ab 30 wie einen Penner aussehen läßt. Ist bei Frauen nicht anders, klar!
Das gab’s so 1981 nicht. Wir ALLE waren sexy Punk-Helden! Gleich bei meiner Punk-Premiere habe ich auf’s Maul bekommen – und am Abend zum ersten Mal mit einem Mädchen geknutscht. Die KEIN Punk war. Als Punk war man ‘81 der Hauptgewinn jeder Fete, alle Mädchen wollten einen haben. Was Mädchen anging, war ich totaler Spätentwickler. Punk hat (nicht nur) in dieser Hinsicht bei mir wichtige therapeutische Dienste geleistet.
Das Fehlen kaputter, alter Punks lag Anfang der Achtziger in der Natur der Sache: Punk war kulturhistorisch ein Baby, und es war noch nicht genug Zeit vergangen, um die Folgen des exzessiven Punk-Lebens ins Gesicht der Darsteller zu schreiben. Das kam erst später, klar. Raum, Zeit, Physik, Chemie und so.
Als sich im Juni 1982 rund 300 Punks in der Wuppertaler City versammelten, waren wir alle jung und frisch.
Mein Freund Wim Tölpel sagte:
»Klasse … schau mal! Da sind auch ein paar ältere Punks, so Mitte zwanzig. Und einer ist bestimmt schon ÜBER DREISSIG! Hammer!«
Ist also ne billige Nummer, die späteren Punk-Zombies mit den goldenen 80ern vergleichen zu wollen. Da waren genau diese Zombies noch wild umherspringende Fohlen, die im Pogo ihre Kräfte miteinander maßen oder als süße Punquetten die erotischen Phantasien der Kerle Amok laufen ließen.
Auch der Suff kannte keine Grenzen. Ich erinnere mich noch gut an den besoffenen Punk, der bei mir übernachtete. Am nächsten Morgen schrieb er mit dem Edding »Ohne Alkohol fühle ich mich nicht wohl« an meine Tapete. Ein anderer kloppte sich in meiner Bude im Suff mit seiner Freundin. Ein Cassettenständer (und einiges mehr) wurde zertrümmert, als die beiden übereinander herfielen. Liebe, nette Leute - heute!
Also wurde auch in Heidelberg gesoffen, gepöbelt und ein bisschen randaliert. Denn das macht man als Punk ja so.Die jüngeren wollten ihren älteren Kollegen keinen Deut nachstehen!
Ich erspähte ein hübsches, blonde Mädchen, vielleicht 16,17, das mit trägem Blick durch die Gegend taumelte, wie nach einer Lobotomie. Sie war völlig verschmutzt und jagte mir Schauer über den Rücken. MEINE Tochter möchte ich NIE so sehen … BITTE! (Bin ich jetzt der vielbesungene »Spießer«?)
Oder die 15jährige, die ein bißchen verwirrt daherkam. Frisch von zuhause abgehauen. Eltern, die ihr gesagt hatten, daß sie nicht wiederkommen bräuchte, wenn sie sich erst einmal davongemacht davonmachen hätte
»Mein Vater wirft mich die Treppe runter, wenn er mich findet!«, verkündete sie und blickte dabei nicht gerade furchtlos aus der Wäsche. Ich entdeckt ein paar verdächtige Schnittspuren an ihren Armen.
Auch nichts ungewöhnliches früher: Bambi, damals ebenfalls 15, hatte bei mir übernachtet (unfassbar, wie viele Leute damals in meiner Bude zu Gast waren!). In meiner Gegenwart begann sie plötzlich, an ihren Armen rumzuschnippeln. Ein echter Schock fürs Leben!
Dagegen war der Anblick, wie sie ihrer Ratte per Mund Spucke zu trinken gab, geradezu liebreizend.
Oder Sabine: Wenn man die traf, waren Komasuff und »Eisgekühlter Bommerlunder«-Gesang nicht weit. Ein schlaues Mädchen, das alles daran setzte zu beweisen, dass sie die stumpfeste von allen war. Aber nein, das war sie eben NICHT!
Auf den Punkt gebracht: Die 80er-Szene war durchsetzt von neurotischen, durchgeknallten, exzessiven, saufenden, verdrogten, masochistischen und selten gewalttätigen Leuten (Hallo Bany!), die keine Gelegenheit ausließen, ihre Grenzen bis zum Geht-nicht-mehr zu überschreiten. Wer anderes behauptet, hat sich immer nur zwischen Plattenladen und Kinderzimmer bewegt.
Dennoch mochte ich die ganze bekloppte Bande. Es war meine neue Familie, mit der mich mehr verband als mit allem, was vorher war.
Wir, die 81/82er-Generation, wurden von vielen älteren (oder damals schon Ex-) Punks verachtet. Auch die erste Skin-Generation (größtenteils vom Punk rübergemacht, ich erwähnte es!) hatte nur Spott und Haue für uns übrig. Wir waren keine ECHTEN Punks für die. sondern eine Armee feiger Verlierer. Boah, ej!
Mit den Skins und News Wave hatte Punk schon zwei Abspaltungen erlebt. Übrig geblieben waren die Lederjacken- und Nietenträger. Dazu wir Frischlinge, die versuchten, sich an den »Alten« (immer noch ein Lacher, die 22jährigen ALTEN!!!) zu orientierten.
Wir imitierten so gut es ging das, was wir für »Punk« hielten, und zu unserem Glück (aber ohne unser Verdienst!) Gab es weder Internet noch den NIX-GUT-Onlineshop.
NATÜRLICH hätte ich meine Klamotten bei einem Versandhandel gekauft! Wenn es denn einen gegeben hätte. So aber blieb uns nichts anderes übrig, als den ganzen Scheiß selbst zu fabrizieren. Oder Punk-Aussteigern abzuschwatzen.
Heute rühmen sich die Punks von damals ihrer früheren »Kreativität« und mäkeln über den Konsum der jetzigen »Punks«. Sie vergessen, daß sie in einer ganz anderen Zeit lebten, mit anderen Versuchungen, Chancen und Problemen.
Wie das mit dem Punk funktioniert, wußten wir nicht wirklich, denn außer gelegentlichen bescheuerten Artikeln in der Mainstream-Presse gab es da kaum Anregungen. Wir imitierten, bis der Arzt kam, und es hat mehr als einen Punk gegeben, der vor dem Spiegel die Sid-Vicious-Schnute geübt hat. Wir hingen an den Lippen derjenigen, die sich einen London-Besuch leisten konnten, kloppten die wirklich raren Scheiben auf Tapes und tauschten uns per Fanzines aus.
Anders ging’s nicht, wobei so ein nettes, kleines Internet auch uns bestimmt gefallen hätte. Stattdessen schrieben wir Briefe und warteten wochenlang auf Antwort.
Es war die Not, die uns erfinderisch machte und nicht unsere grenzenlose Einzigartigkeit. Wir wären genauso gerne bequem gewesen wie die Punk-Kids, die einem heute über den Weg laufen und die immer gleichen Aufnäher stolz auf Jacke wie Hose tragen. Aber es ging eben nicht.
Natürlich fanden die »Alten« APPD und Chaostage Scheiße. War ja nicht auf ihrem, sondern unserem Mist gewachsen. Natürlich kritisierten sie unsere Uniformierung, denn SO war das ursprünglich mit dem Punk wohl nicht gemeint gewesen.
Uns war das egal. Wir wollten nicht zu irgendwelchem Kunst-Scheiß durch die Gegend wackeln oder uns jeden Tag was Neues einfallen lassen (wie anstrengend!), sondern das Geschwür am Arsch der Gesellschaft sein. Auf der Straße rumhängen, die braven Bürger nerven, eine verdorbene Nummer abliefern, die viele von uns leider viel zu ernst nahmen.
Punk erlebte Anfang der 80er eine Transformation. Er wurde von totalem, exzessivem Individualismus zu einer Straßenkultur, zu einem regelrechten STAMM. Jeder Asi und jeder Blödmann durfte mitmachen, ohne Aufnahmeprüfung. Aber mit allen möglichen Riten, Zeichen, Feindbildern und immer mehr Parolen. Die klaute man größtenteils von der radikalen Linken – angefangen beim Anarchie-«A« bis zum fast schon pseudoreligiösen Antifaschismus. SLIME lieferte den Soundtrack zu einen thematischen Steinbruch, an dem sich in den Jahren darauf unzählige Bands bedienten,
Unsere Musik war härter und schneller als die der frühen Punks. Die Sauferei wurde zum Grundbestandteil von Punk, und Demos waren die idealen Gelegenheit, das Mütchen zu kühlen und anschließend mit den Heldentaten zu prahlen.
Wir waren jung und brauchten den Krieg. Abrüstung war ein Fremdwort. Stattdessen tauschte man Fachwissen über Gasknarren und Pyrotechnik aus. Und die Chaostage wurden zu Schlechter Letzt zu unserem Stalingrad, zu einem Trümmerfeld aus Einfallslosigkeit, Gewaltfetisch, Selbstbeschränkung und Suff.
Kein Wunder, daß danach der Hardcore vor der Tür stand, sich die fittesten Leute in genau diese Richtung davonmachten und endgültig nur der Komasuff übrig blieb.
Aber genau dieser eher unangenehme Teil der Punk-Geschichte wird gerne ignoriert. Stattdessen zehren die Punks von heute von genau jenen Mythen, die wir bis Mitte der Achtziger schufen. Seit Jahren führen sie das immer gleiche Theaterstück bis zum Erbrechen wieder und wieder auf. Und wundern sich, warum es heute nicht so wunderpunkschön ist wie es damals angeblich war.
Die Natur des von uns so hochgelobten Punks der 80er erkennen wir daran, wie viele unserer alten Freunde und Begleiter mittlerweile unter der Erde liegen. Die ständige Betonung, wie geil es damals war und wie beschissen es heute ist, führt nur dazu, daß die Kids auch den letzten Mist, den wir verzapften, noch und und nöcher zu imitieren suchen. Nur um schließlich womöglich selbst als Leiche zu enden. Nicht zu vergessen die lustige Zombiephase davor …
Zurück nach Heidelberg: Da saß ich also in der netten Runde mit kaputten, besoffenen, alten Punks und jungen, frischen und auch schon ganz schön strammen Jungpunks. Und schaute mir die Leute der Reihe nach an. Sah die Leichen, die einige der Älteren wohl in absehbarer Zeit sein würden und die Zombies, die aus manchen der Jüngeren werden würden.
Was tun? Aufspringen und eine flammende Rede auf das LEBEN halten? Auf »Positive Mental Attitude«? Gegen Suff und Drogen?
Nee, war doch nicht bescheuert! Die hätten mich ausgelacht, zu Recht! Natürlich wollten sie ihr Theaterstück spielen, und natürlich wollten sie genauso »toll« sein wie die »Alten«. So wir wir das damals auch wollten. Und sich dazu ordentlich die Birne dichtballern. Völliger Schwachsinn zwar, aber der gute, alte Homo knalle sich schon immer gerne das Gehirn weg, weshalb ich meine Klappe hielt. Sollen sie ihre eigenen Erfahrungen machen, mit allen Konsequenzen!
Mein Blick wanderte weiter, und da sah ich ihn kommen, den fehlenden Teil der Theatertruppe. Der Polizeisportverein war soeben in lockerer Formation im Anmarsch, um die höchstgefährlichen Chaostage in einen Kessel zu bannen.
Man hätte natürlich weglaufen können, aber das fällt schwer mit 2 Promille (oder mehr!) im Blut. Der Mob blieb lieber sitzen. Passieren konnte eh nicht viel, also suchte auch ich nicht das Weite.
Die Polizei trat nicht mit Helm und Tonnenbrust auf den Plan, sondern im lockeren Dreß und feschem Käppi. Und meine Polizeifreundin übermittelte mir schon wieder einen Schwung positivster Energien. Sie schenkte mir ihr bezauberndstes Lächeln.
Ich versuchte, die Punk-Ansammlung mit den Augen dieser Cops zu sehen. Versuchte in ihren Gesichtern zu lesen, was sie dachten angesichts des volltrunkenen, teilweise verdreckten Mobs, der alle Zeichen der menschlichen Apokalypse zeigte. Und ich sah keine Überheblichkeit, keine Aggression oder gar Hass … sondern Sorge und MITLEID!
Nein, das hatte es in unseren ach so goldenen Zeiten wirklich nicht gegeben! Die Polizei war immer voll auf Zinne, wenn sie uns entgegentrat und ließ keine Gelegenheit aus, uns klarzumachen, daß sie uns für das Allerletzte hielt. Aber für nichtsdestotrotz irgendwie gefährlich. All diese wilden, linksradikalen Parolen auf unseren Jacken (»Schieß doch, Bulle!«) – das mußte man doch ernstnehmen! Wir waren DER GEGNER, dem man es ordentlich besorgen mußte!
Und nun: MITLEID. Das war schlimm. Kaum auszuhalten.
Aber warum? Was hatte sich verändert? Eine Antwort zu geben, die wirklich Hand und Fuß hat, fiel mir schwer. Lag es etwa daran, daß die Polizei dazugelernt hat, sie die Punks durchschaute? Oder weil es die Zombie-Punks nicht mehr schafften, die Ich-bin-ein-gefährlicher-Punk-Nummer überzeugend rüberzubringen?
Und überhaupt: Warum fand ich das Lächeln der netten Polizeibeamtin attraktiver als den debilen Blick der sturztrunkenen Punquetten? Oder erklärte genau das ALLES?
Ich entschloß mich, es mit einem kleinen Flirt zu versuchen. Nicht daß ich mir einbildete, die Dame abzuschleppen oder gar zur Desertation verleiten zu können. Aber ich war neugierig, und ein neugieriger Karl vergißt schnell jede Grenze. (Die Insider wissen, was ich damit meine!)
Über die Details unseres sehr privaten Gesprächs möchte ich an dieser Stelle schweigen. Ich erfuhr einiges über ihre Motive und Einstellungen sowie auch ein paar Dinge, die man in so einem Einsatz besser nicht sagen sollte. Aber falls sie dies hier jemals lesen sollte, danke ich ihr noch einmal ausdrücklich für ihre Offenheit.
Unterm Strich: Sie leistete sich den Luxus, sich als Individuum zu outen, ohne Sprücheklopperei von der Stange oder aus dem Polizeihandbuch. Macht ja kaum ein Bulle.
Und es sagt natürlich auch einiges über mich aus, den »Bullenfreund« Karl Nagel, nicht wahr? Wer mit dem Feind kollaboriert oder auch nur plaudert, muß einen Kopf kürzer gemacht werden! Intifada-Antifada-olé!
Nun, das mag jeder sehen wie er will, aber ICH zumindest wurde durch das Gespräch bedeutend schlauer. Es vernetzten sich ein paar Dinge in meiner Birne.
Bevor ich länger darüber nachdenken konnte, wurde ich aus dem Kessel herausgewunken, damit ich meinen Ausweis abgeben und einen Platzverweis abholen konnte.
Dem polizeilichen Gegenüber (geht auch so rum!) entging natürlich nicht mein Alter, der graue Bart und das völlige Fehlen von Trunkenheit. Er geriet bei der Begründung meines Platzverweises ins Schwitzen und begab sich tatsächlich auf das Glatteis vernünftigen Argumentierens.
Er sagte, dass ihm völlig klar sei, daß der Platzverweis bei mir unangebracht sei, er aber dummerweise seine Anweisungen habe. Daß ihm ebenso klar sei, daß hier nur Verdrängung betrieben werde und die Punks natürlich anderswo wieder auftauchen würden. Blöde Sache, aber keine Lösung ins Sicht.
Aber warum, warum bloß ich mich denn im Kreise dieser Leute aufhalten würde; das konnte er überhaupt nicht nachvollziehen. Ich erklärte ihm, daß ich früher genau so einer gewesen sei und nun darüber schreiben wollte, was aus unserem Punk nach dreißig Jahren geworden war. Und daß das nun mal nicht ohne direkte Eindrücke und Gespräche ging.
»Weißt Du,« sagte er, »ich habe wirklich nichts gegen Punks. Aber wenn ich diese Selbstzerstörung sehe, und wie da junge Mädchen besoffen im Dreck liegen … da habe ich einfach nur Mitleid!«
BUMM! Da war es wieder, das Unwort des Jahres: MITLEID! Nicht daß ich nun der Meinung war, der Polizeieinsatz wäre irgendwie aus »Mitleid« erfolgt – für so blöde und naiv sollte mich niemand halten! – aber dieser eine, nächstbeste Polizist sprach exakt das aus, was ich vorher in den Gesichtern vieler gelesen hatte! Sollte ich vielleicht doch den Beruf wechseln und mein Geld als Gedankenleser verdienen?
Ich fragte nach den Details des Platzverweises. Nun, er galt für die gesamte Heidelberger Innenstadt, und zwar über das ganze Wochenende. Und da ich aus Hamburg kam, müßte ich nun leider Heidelberg verlassen. Vorschrift sei Vorschrift.
Ich zückte meinen Hotelschlüssel und wedelte damit herum.
»Das paßt irgendwie gar nicht. Ich habe ein Hotel für das ganze Wochenende gebucht.«
»Ja, ähm … aber Du darfst Dich dann eben zumindest morgen nicht erwischen lassen. Sonst gibt’s ein Ordnungsgeld. Kann ich nichts machen.«
»Oh, schön. Da habe ich kein Problem mit. Ich werde trotzdem da sein. Das ziehe ich durch, bis ich die Nacht in der Zelle verbringen darf. Und anschließend gibt’s ein lustiges Gerichtsverfahren. Dann könnt Ihr mal nachweisen, was denn nun speziell ICH getan habe, das so eine Maßnahme rechtfertigt. Das verliert Ihr.«
»Hm. Das kann schon sein. Aber tu mir bitte einen Gefallen … geh‘ mir bitte irgendwie morgen aus dem Weg. Es wäre mir unangenehm, wenn ich diese Maßnahme an Dir vollstrecken müsste. Aber das müsste ich dann ja.«
Der Tag war gerettet. Polizisten, die vernünftig mit einem reden, ein bißchen ins Schwitzen zu bringen und den Irrsinn mancher Einsätze in ein persönliches Problem zu verwandeln, das macht Spaß!
Aber für heute war Schicht im Schacht. Die Punks machten sich auf den Weg irgendwohin, und Oli und ich lungerten den Rest des Abends in einem Eiscafe herum. Und dann ab ins Bett - es wartete ein neuer Tag mit vielen interessanten Erkenntnissen auf uns!
Das beste am Schlaf ist seine Eigenschaft, all den Gedankenmüll ins Klo zu spülen und Platz für neue Gedanken zu schaffen. Das schafft in dieser konstruktiven Form keine Droge. Reset total.
Und tatsächlich waren am nächsten Morgen meine doch etwas trübsinnigen Gedanken wie weggewischt. Ich erinnerte mich nämlich, wie Mitte der Achtziger speziell die Münchener Punks des Flexhead-Ordens mit dem Dahinsiechen der Szene umgingen.
Die Flexheads, das war eine Punk-Bande ordentlich durchtätowierter und grundsätzlich optimistischer Lebenskünstler, die sich nicht die Wurst vom Brot nehmen ließen. Mir fallen da in erster Linie Leute wie Mike, Erich und Christian ein, die zwar auch kein Bier unausgetrunken stehen ließen, aber ständig umtriebig in der Gegend unterwegs waren.
Die Tatsache, daß von einer ehemals sehr lebendigen und originellen Szene in vielen Orten nur noch ein unbeholfener Mob übriggeblieben war – die sogenannte DuPus (Dummpunks) oder auch Stumpfpunks – war für die Flexheads kein Anlaß für Traurigkeit oder Gejammere. Im Gegenteil: Sie bejubelten die Aktionen der Grunz-Fraktion als perfektes Entertainment im grauen Alltag! Als bizarren Film, der sich in der Realität manifestiert hatte, weshalb man für die Existenz der Punk-Primaten gefälligst dankbar zu sein hatte. Für einen derben Trash-Film muß man Eintritt zahlen – die Stumpf-Punks aber gab’s umsonst! HURRA!
Folglich hieß das in Flexhead-Kreisen fabrizierte Fanzine auch STUMPFCORE. Das Heft ließ keine Gelegenheit aus, Intelligenz, Niveau und Einfühlungsvermögen in nicht gekannte Tiefen zu führen.
Wir »Überlebenden« konnten ja nichts daran ändern, daß sich viele Punks zu bölkenden Seuchenschleudern entwickelt hatten – aber wir konnten darüber LACHEN. Ich erhielt ein paar harte Kopfnüsse von den Flexheads Erich und Mike, die meine Einstellung vielen Dingen gegenüber in ganz neue Richtungen lenkten.
Nur auf Basis dieser schon ziemlich surrealen Punk-Philosophie war auch später die Wiederkehr der Chaostage in den 90ern und ebenso die Neugründung der APPD möglich. Es ging nicht um eine Neuaufführung alter Spektakel, nicht um die »Wiederbelebung der Szene« und erst recht nicht um politische Ziele. Sondern um den naßforschen Willen, die Regeln des Wahnsinns SELBST zu bestimmen – und damit auch die Gelegenheiten, die zu irren Lachanfällen veranlassen konnten. Wir waren die JOKER des Punk! Nur so konnten wir die bekloppte Welt akzeptieren.
Also denn, dachte ich mir, wirf all Deine Ansprüche den heutigen Punks gegenüber einfach auf den Müll! Sollen sie leben, sterben, verrotten, im Knast landen oder brav zu Mutti zurückkehren – nicht meine Baustelle! Ich schau mir das nur an und hoffe auf gute Unterhaltung. Denn mehr war wohl nicht drin.
Zumal es einem die Kids eh nicht recht machen können: Führen sie ihre Nummer genau so auf wie wir damals, werden sie als »Abziehbilder« beschimpft – und gehen sie ganz neue, zeitgemäße Wege, dann heißt es: »Das hat doch nichts mehr mit Punk zu tun!«
Am Samstag das gleiche Spiel wie am Tag zuvor: Such die Punker! Nach einem Umweg über Bahnhof und einmal mehr Eiscafé erreichte uns schließlich der Anruf eines lokalen Punks: Er und seine Kumpels lagerten gerade mal 5 Minuten von unserem Hotel entfernt auf einer Wiese, gegenüber KAUFLAND.
Eine Weile später waren wir vor Ort, und wir wurden von einem etwa 15-jährigen Punk begrüßt, der sich bitter beklagte, weshalb ich mich gestern abgesetzt hätte. Ich sei doch der Karl Nagel, und sie hätten gerne ein paar Geschichten von früher gehört.
Dieser doch sehr ironiefreie Vortrag brachte mich sehr in Verlegenheit, zumal ein paar seiner Freunde sich hinzugesellten und mich mit leuchtenden Augen ansahen.
Bereits am Freitag hatte es ein paar derartige Begegnungen gegeben; einer hatte sogar ein Autogramm von mir haben wollen – per Filzstift auf die betrunkene Punkergestalt.
Während das gestrige Suff-Chaos inkl. Polizeieinsatz es mir leichtgemacht hatte, mich aus diesem Blödkram herauszuwinden, ging das hier nicht so leicht: Die Kids waren allesamt stocknüchtern und nicht davon abzubringen, mir an den Lippen zu hängen.
Eine klassische Situation, in der sich die Frage einmal mehr stellte, ob Gewalt nicht vielleicht doch ein geeignetes Mittel in der Erziehung ist! Dummerweise bin ich nicht der Typ, der Ohrfeigen verteilt, sondern eher eine Labertasche. Deshalb versuchte ich es auf vertraute Weise.
»Diese ganze Fan-Scheisse … in meinen Punk-Zeiten hätten sich die Leute eher die Zunge abgebissen, als irgendwen als Star anzubeten!«
»Und was ist mit SLIME? Die waren doch auch damals schon bekannt und so.«
»Die hatten aber keine ›Fans‹. Das ist ein Wort, das die NIEMALS – und auch sonst keiner von uns! – in den Mund genommen hätten. Es gab halt die Leute, die vor Bühnen standen, und andere standen drauf. Heute so und morgen andersrum. Das war kein besonders edles, verehrungswürdiges Privileg.«
»Aber Du hast doch damals die Chaostage …«
»Scheiss drauf! Ich bin hier, um ne Flasche Wasser mit euch zu trinken, um mal zu schauen, wie ihr so drauf seid … also komm runter und entspann‘ dich!
Danach war tatsächlich Ruhe.
Die etwa 15-20 Punks, die zu diesem Zeitpunkt da abhingen, waren im Durchschnitt vielleicht 16 oder 17 Jahre alt; kann mich an keinen erinnern, der wesentlich älter war. Und, wie gesagt, mehr oder minder stocknüchtern. In ihrem Verhalten eigentlich ganz normal. Keine Primaten!
Es fiel mir nun ganz leicht, die Kids als INDIVIDUEN wahrzunehmen. Als Menschen, die alle eine eigene Geschichte hatten, mit ihren Wünschen, Gründen, und Ängsten.
Ich machte einen Stapel Fotos, um anderen die Gelegenheit bekämen, der jetzigen Punk-Generation wenigstens auf diesem Wege ins Auge zu blicken. Damit den Punks von früher vielleicht das Licht aufgeht, daß sie da niemandem anderes ins Gesicht blicken als sich selbst.
Ich konnte nun jeden Einzelnen ERNSTNEHMEN, sie verschwanden nicht mehr in der Masse des betrunkenen Mobs. Den 15jährigen etwa, dem am Vortag die Freundin abgehauen war und sich ansonsten bitter darüber beklagte, daß er der einzige Politische unter seinen Punk-Freunden sei. Ja, den Nazis, den wolle er ordentlich was aufs Maul geben!
Ich erzählte ihn von einem 15jährigen Skin aus der Gegend von Hannover, der damals eine Band mit dem Namen DIE NEUE RASSE hatte. Einmal hatte er gar auf einem Volksfest mit eben dieser Band das Lied »Juden raus« provoziert. Ein echter Schocker. Ich traf ihn drei Jahre später mit einer schwarzen Freundin wieder. Mittlerweile arbeitet er schon seit Jahren im sozialen Bereich, macht da gute Sachen und hat mit irgendwelchem Rechtskram rein gar nichts mehr am Hut.
»Dann würde ich ihm trotzdem jetzt noch einmal was aufs Maul geben für das, was er getan hat«, sagte mein Gegenüber.
Sei’s drum, auch er braucht wohl seine Zeit, um die Testosteronvergiftung durchzustehen. Ich wünsche ihm, daß auch bei ihm ein paar Mühlsteine fallen … geben wir ihm die Chance dazu!
Oder das blonde Mädchen, das am Tag zuvor noch mit starrem Blick Unverständliches murmelnd durch die Gegend gewankt war. Jetzt jedoch mit klaren Augen fragte, ob sie Bilder aus meinem Fotoarchiv für ihre Jahresarbeit nehmen könnte.
So ist das: Schaust du den Menschen ins Gesicht, stellst du fest, daß die meisten RESPEKT verdient haben! Selbst die Idioten.
Es ist eine anstrengende Sache, die Steinwurfweite zu unterschreiten, ich weiß. »Nähe« heißt oft »Auseinandersetzung«, und natürlich ist es viel lockerer, vom Sofa aus auf den »Punk-Kindergarten« zu schimpfen.
War bei den ersten Skin-Angriffen Anfang/Mitte der Achtziger nicht anders. Da hauten die Glatzen am liebsten auch den Neu-Punks aufs Maul – die älteren kannten sie aus ihren eigenen Punk-Zeiten! Wie erwähnt beschimpften sie den Nachwuchs, keine »echten Punks« zu sein, und zur Strafe gab’s was von der glatzköpfigen Justiz auf’s Maul.
Ok, so weit gehen die Punk-Rentner nicht, aber die Pose des erbarmungslosen Richters aus großer Distanz beherrschen sie gut. Z.B. bei der Grillparty im Kleingarten, wo man auf andere Ehemalige trifft und ein wenig über das Damals und Heute schwadroniert.
»Gibt doch heute gar keine Punks mehr!«, anschließend das Würstchen in den Senf tunken und herzhaft zubeißen – das ist Meinungsbildung!
Wobei ich mir damals immer die Frage gestellt habe: Wenn die Glatzen doch so sehr um die Lehre des reinen Punk besorgt waren – warum waren sie dann Skins und keine Punks mehr?
Oder heute: Wenn der Club der älteren Damen und Herren mit Bauch, Glatze, Orangenhaut und Tränensäcken so sehr den damaligen Punk über den Grünen Klee lobt – warum haben sie sich damals aus dem Punk-Paradies davongemacht?
Ich weiss, das wirkliche Leben … lange Geschichte …! Ich will diese Fragestellung deshalb hier nicht vertiefen, zumal es in erste Linie um die Heidelberger Chaostage vom vergangenen Wochenende gehen soll!
Ich will nicht weiter abschweifen. Kehren wir lieber zurück zur Wiese in der Nähe von KAUFLAND, auf der gerade ein Dutzend junger Punks herumtollte, sich gegenseitig die Haare frisierte und eine standesgemäße Ernährung mit Chips und Bier vollzog.
Nach und nach wuchs dieses Dutzend um den einen oder anderen Neuankömmling an, bis schließlich ein etwas älterer Punk energisch vortrat:
»Laßt uns zum Bismarckplatz gehen! Da sind auch schon ein paar andere. Da können wir dann gemeinsam feiern!«
»Aber da haben wir doch alle Platzverweis. Hier lassen uns die Bullen anscheinend in Ruhe.«
»Egal! Sollen sie doch kommen! Ich werde da nicht weggehen!«
Tatsächlich gelang es ihm, einen Großteil der Lagernden zum Aufbruch zu bewegen. So saßen wir am Ende nur noch mit einer Handvoll Leute auf der Wiese. Auch irgendwie doof. Also ne Stunde später rein in die Straßenbahn, mal schauen, ob die ganz Mutigen schon von der Polizei eingesackt worden waren.
Waren sie nicht. Zwar beobachteten die Cops aus wie gehabt respektablem Abstand die Meute, aber ohne einzuschreiten.
Auf der Wiese des Bismarckplatzes erwartete mich eine feucht-fröhliche Stimmung, aber keineswegs im Absturz-Koma wie am Tag zuvor. Gleich drei Gitarren waren am Start, und ein besonders Eifriger spielte diverse Punk-Riffs rauf und runter, um einen dazu passenden Text fertigzuschreiben.
Eine Weile später sah ich, daß ein Uniformierter näherkam und ein paar Worte mit einem Punk wechselte. Selbiger verkündete einige Minuten später, daß die Polizei die Anwesenheit der etwa 30-40 Punks am Bismarckplatz nicht länger dulden würde. Es wäre aber ok, wenn man sich an den Neckarwiesen niederließ.
Dank des eher übersichtlichen Alkoholisierungsgrades erwies sich die Gruppe tatsächlich als handlungsfähig. Man packte seine Siebensachen und trottete zu den nicht sehr weit entfernten Neckarwiesen. Und ließ sich dort inmitten Hunderter Bürger nieder, die dort ihr Sonnenbad nahmen. Aufmerksam beobachtet von der Polizei, die durch ihre Präsenz wohl den Übermut der Meute in Grenzen halten wollte.
Aber die Punks gammelten eh nur in der Sonne rum, tranken Bier und Schnaps. Sie wollten in Ruhe gelassen werden und zu guter Letzt besoffen einschlafen!
Auf die Dauer fand ich so eine Art Ruhe doch eher langweilig. Ich machte mich auf die Socken, um zurück zu Oliver zu fahren, der immer noch auf der Wiese nahe KAUFLAND lagerte.
Unterwegs kam ich an einer Bullenwanne vorbei. Und wer winkte mich von dort an den Wagen heran? Na, der Polizist, der mir am Tag zuvor den Platzverweis erteilt hatte – und mich auf keinen Fall wiedersehen wollte, weil er mich ja sonst einsacken müsste!
War aber nun keineswegs seine Absicht:
»Hör mal, wenn Du da Deinen Text schreibst, dann schreib aber auch, daß ein Kollege von mir angepisst worden ist!«
»Wie …?«
»Na, das war ausgerechnet der Kollege, der den Punks am Bismarckplatz gesagt hat, sie würden an der Neckarwiese von uns geduldet. War doch ein Angebot, oder?«
»Angebot« hin oder her, unterm Strich hatte die Polizei über Nacht ihre Strategie geändert und die Platzverweise vom Vortag nicht durchgesetzt, sondern den Punks ein Ausweichquartier verschafft. Das hatte auf jeden Fall Ärger erspart. Und daß die Cops nicht die Absicht hatten, mich nach ignoriertem Platzverweis härter anzugehen, war ja offensichtlich.
»Und dann?«, fragte ich.
»Na, da ist dann eben ein Punk gekommen und hat ihn angepißt. Das ist aber nicht schön, sowas! Den haben wir natürlich mitgenommen!«
Ich zuckte mit den Schultern. Ein anderer Polizist mischte sich aus Richtung der Rücksitze ein.
»Wo kann man denn die Sachen lesen, die Du schreibst?«
»An verschiedenen Stellen … zum Beispiel in meinem Blog, aber auch bei Facebook.«
»Da muß ich Dich dann also als Freund adden, und dann kann ich das lesen?«
»Nee, ist nur ‘ne Seite, geht auch ohne den ganzen Kram.«
Ich gab ihm meine Visitenkarte: »Da steht alles.«
Bald darauf war ich wieder bei Oli und ein paar Rest-Punks, die aber nach und nach verschwanden, weil sie irgendein Fabrikgelände »besetzen« wollten. Übrig blieb nur ein blutjunger, schlafender Punk, der irgendwann aufwachte und mich mit traurigen Augen ansah: »Und was jetzt? Ich habe doch so einen Hunger!«
Also gab ich ihm etwas Geld für Chips und Gummibärchen, und Oli und ich verschwanden im Hotel. Für uns waren die »Chaostage« vorbei.
Mein Resümee: Punk ist scheiße und Punk ist geil. Punk, das hatte schon zu unseren Zeiten nichts mehr mit ‘77 zu tun. Nicht die Straßenpunks, nicht die Polit-Punks, schon gar nicht die Plattensammler-Punks.
Die erwähnten Straßenpunks haben sich seit jener Zeit in einen Indianerstamm verwandelt, der von Reservat zu Reservat zieht. Sie versuchen, irgendwelche obskuren Traditionen (die nur von Mund zu Mund weitergetragen werden) am Leben zu halten. Bis der eine oder andere Indianer dann keine Lust mehr hat, sich an dem Irrsinn innerhalb und außerhalb der Szene aufzureiben und eine Nische in der ganz normalen Gesellschaft zu suchen beginnt. Nicht als »Überlaufen« oder urplötzliches »Normalwerden«, sondern Scheibe für Scheibe der Lebenssalami.
Manche schaffen diesen Übergang nie oder wollen ihn auch nicht, und viele davon wiederum begegnen uns später als vom Punk verbrauchte Gestalten auf der Straße. Jede Form von Hochmut á la »Ich war schlauer als die!« ist fehl am Platze.
Alle labern sie von besseren Zeiten, die sie nie selbst erlebt haben und wohl auch nicht mehr erleben werden. Die anarchische Explosion des Punk konnte es nur einmal geben, und zwar naturgemäß zu Beginn.
Die Punks von heute haben statt Chaostagen riesige Festivals, bei denen alles geregelt ist und ihnen der Arsch geputzt wird. Sie dürfen ordentlich Eintritt berappen, ihre Helden von SLIME bis zu den KASSIERERN aus gebührendem Abstand bewundern und sich ansonsten an den diversen Merchandisingständen was nettes zulegen.
Dabei träumen viele von ihnen von Chaostagen. Ein einziges Mal mit Tausenden eine ganze Stadt durcheinanderwirbeln! Aber das bleibt ein Traum. Auch, weil sie nicht wirklich scharf auf etwas Neues sind und Experimenten eher skeptisch gegenüberstehen.
Punks sind konservativ, und nicht erst seit heute. Sie sind traditionsbewußt und wollen ECHTE PUNKS sein. Und das sind sie. So wie wir, ihre »Großväter«, es auf unsere Weise auch waren.
Viele von ihnen werden durch Punk für ihr ganzes Leben geprägt, für andere bleibt es nur eine unwichtige Phase.
Ich selbst habe nicht vergessen, daß Punk mir mal das Leben gerettet und mich aus einem Dasein als ganz arme Wurst befreit hat. Meine HEIMAT wird immer irgendwo und unerreichbar in den Achtzigern verborgen bleiben, aber ich weiß, wo ich herkomme.
Viele von uns haben mit sehr hohem Einsatz gespielt, jeder auf seine Weise, oft bis zum Friedhof. Diese Bereitschaft zum RISIKO hat uns alle zu einer untrennbaren Geschichte verbunden, zur besagten Familie, mit all ihren Lieblingsonkeln und Schwarzen Schafen.
Ich vermisse diese Familie, aber der Gedanke daran gibt mir gleichzeitig viel Kraft, nach vorne zu blicken.
Genau das wünsche ich der Punk-Generation 2013. Und den folgenden.