
FEIND
Explodierende Gehirne, HA! Die Vorstellung selbiger hätte mir früher Angst gemacht, aber ich bin darüber hinaus. Jetzt berechne ich die Wahrscheinlichkeiten, katalogisiere die Möglichkeiten. Niemals Opfer sein, kein Getriebener von Ängsten und fremdgesteuerten Ereignissen - darum geht’s!
Der Zettel klebte an meinem Fahrrad wie ein toter Schmetterling. Schwarze Filzstiftbuchstaben auf weißem Grund: »Dein Gehirn wird morgen Punkt 12 Uhr mit einem hübschen Knall in die Luft gehen! Freu dich drauf!«
Ein unbekannter Feind - nennen wir ihn ruhig so, FEIND! - weiß also a) wo ich wohne, b) wie mein Fahrrad aussieht, c) beobachtet mich. Plant etwas.
Die Stadt da draußen ist voller Augen. Kameras an jeder Ecke, Drohnen am Himmel, Gesichter hinter Fenstern. Eines davon gehört FEIND.
»In die Luft gehen.« Ich analysiere die Semantik. Könnte metaphorisch sein - aber denkt FEIND wirklich in Metaphern? Oder in Patronenkalibern und Sprengstoffmengen? In sauberen Schnitten durch Halsmuskeln und Wirbelsäulen? In präzisen Dosen von Nervengiften? Mit mathematischer Präzision lerne ich FEIND kennen, ohne FEIND zu kennen.
Geschlecht? Irrelevant. Name? Bedeutungslos. In dieser verdammten Political-Correctness-Gesellschaft verschwinden die Identitäten sowieso hinter Pronomen-Nebel. Gut so. Macht die Analyse klarer. FEIND ist FEIND ist FEIND.
Die Optionen stapeln sich wie Leichen in meinem Kopf: Dumdum-Geschosse, die mein Gehirn in rosa Nebel verwandeln. Designer-Drogen, die meine Synapsen in elektronische Schlacke brennen. Nanoroboter, die meine graue Substanz in grauen Schleim verwandeln. Die Wissenschaft hat uns so viele schöne neue Arten zu sterben geschenkt.
Ist es nur ein Spiel? Analyse sagt: negativ. FEIND verschwendet keine Zeit mit Spielen. Die Angst ist nur ein Aperitif. Der Hauptgang kommt um zwölf.
Ich greife zum Handy. Wähle Saschas Nummer. Eine weitere Variable in der Gleichung.
»Ich habe eine Morddrohung bekommen«, sage ich. Direkt und ohne Umschweife. Ich habe keine Zeit für soziale Protokolle.
Stille in der Leitung. Die Stille hat Gewicht. Hat Form. Ist sie Teil von FEINDs Plan?
»Bist du noch da?«, frage ich. Kontrolle bewahren. Immer die Kontrolle bewahren.
»Ja. Hast du’s schriftlich?«
»Am Fahrrad. Wie ein verficktes Parkticket.«
»Dann lies es mal vor!«
Ich tue es. Die Worte schmecken nach Metall.
Sascha schweigt wieder. Ich analysiere sein Schweigen. Kategorisiere es. Ist es das Schweigen eines Mitverschwörers? Eines hilflosen Beobachters? Eines Menschen, der bereits weiß, daß mein Gehirn morgen Konfetti sein wird?
»Du solltest zur Polizei gehen«, sagt er endlich.
Ich lache. »Die Polizei.« Das Wort ist ein Witz. »Die werden einen Papierkram-Tornado erzeugen und mir einen Beamten mit Beamtengehirn vorsetzen, der in Beamtenlogik denkt. Während FEIND da draußen ist. Plant. Wartet.«
»Du klingst paranoid.«
»Paranoid ist, wer die Zeichen nicht lesen kann. Ich sehe die Muster. Die Verbindungen. Zwölf Uhr - die perfekte Zeit. Die Sonne im Zenit. Maximale Sichtbarkeit für das Spektakel. FEIND denkt in Symbolen. In Aufführungen. Mein explodierender Schädel wird eine Botschaft sein.«
In meinem Kopf falten sich die Wahrscheinlichkeiten wie Origami-Figuren. Jede neue Form eine weitere Möglichkeit, wie FEIND zuschlagen könnte. Die Stadt da draußen ist ein Schachbrett, und ich bin der König im Schach. Aber ich kenne die Spielregeln. Habe die Züge berechnet.
»Hör zu«, sage ich zu Sascha, »ich brauche Informationen. Wer hat in letzter Zeit nach mir gefragt? Wer hat sich für meine Routinen interessiert? Meine Gewohnheiten?«
»Jesus, Mann. Das ist doch …«
»SYSTEMATISCH DENKEN!« Meine Stimme ist ein Skalpell. »Das ist der einzige Weg. FEIND macht keine Fehler. Also darf ich auch keine machen.«
Die Uhr tickt. Siebzehn Stunden und dreiundzwanzig Minuten bis zum Countdown. Zeit genug, um die Variablen zu ordnen. Die Gleichung zu lösen, den Code zu knacken.
Draußen zieht eine Wolke vor die Sonne. Oder ist es eine Drohne? Ein Späher von FEIND? Die Welt ist voller Doppelbedeutungen. Voller versteckter Signale. Man muß nur wissen, wie man sie liest.
»Ich melde mich später«, sage ich zu Sascha und lege auf, bevor er antworten kann. Seine Stimme ist eine Störung in meinem Analysemuster. Ein Rauschen, das die Klarheit verwässert.
Meine Wohnung ist ein Bunker. Dreifachverriegelung an der Tür, Bewegungsmelder an den Fenstern, Überwachungskameras in jedem Winkel. Sie nennen sowas paranoid, ich nenne es vorbereitet. Und heute beweist sich, daß ich recht hatte. Immer recht hatte.
An der Wand hängt eine Stadtplan. Rot eingekreist: meine üblichen Routen. Blau markiert: potenzielle Fluchtwege. Gelb hervorgehoben: Orte mit maximaler Überwachung. FEIND muß mich irgendwo auf diesem Papierlabyrinth studiert haben. Beobachtet. Katalogisiert.
Ich ziehe den Zettel aus der Tasche. Das Papier ist billig, der Geruch chemisch. Massenware aus jedem Schreibwarenladen. Keine Hilfe. Aber die Handschrift - da ist etwas. Die g’s haben einen charakteristischen Schwung, die Ausrufezeichen sind aggressiv nach rechts geneigt. 45-Grad-Winkel, um präzise zu sein.
Eine neue Variable für die Gleichung: FEIND ist Rechtshänder. Schreibt mit emotionaler Intensität. Hat vermutlich einen Job, der Präzision erfordert. Techniker? Chirurg? Scharfschütze?
Mein Gehirn rattert wie ein Quantencomputer, spuckt Wahrscheinlichkeiten aus. In elf Stunden wird sich zeigen, ob meine Berechnungen stimmen. Ob ich FEIND einen Schritt voraus bin. Oder ob meine graue Masse tatsächlich die Tapete dekorieren wird.
Zeit für einen Kaffee. Schwarz wie ein Überwachungskamera-Feed um Mitternacht. Die Tasse ist immer noch warm von der letzten Füllung. Wie lange stehe ich schon hier und starre auf die Handschrift? Die Zeiger der Uhr bewegen sich wie Sekundenzeiger einer Zeitbombe.
Ein Geräusch von draußen. Analysiere: Autoreifen auf nassem Asphalt. Normale Geschwindigkeit, normales Reifenprofil. Oder? Verdammt. Seit wann kann ich nicht mehr zwischen normal und tödlich unterscheiden? Die Logik zerfließt wie Wachs in meinem Gehirn. KONZENTRATION! FEIND will genau das - will, daß ich die Kontrolle verliere. Will, daß ich Muster sehe, wo keine sind. Oder will FEIND, daß ich denke, daß ich Muster sehe, wo keine sind, damit ich die echten Muster übersehe?
Meine Hände zittern nicht, als ich den Laptop aufklappe. Sie zittern NIEMALS. Ich muß Listen anlegen, hunderte von Listen. Menschen, die mich hassen könnten. Menschen, die einen Grund hätten, mein Gehirn in die Luft zu jagen. Menschen mit Zugang zu Sprengstoffen oder Hochdruckwaffen oder experimentellen Pharmazeutika.
Korrektur: Vorsicht, darf mich nicht im Klein-Klein verlieren! Muß mich auf das Wesentliche konzentrieren!
FEIND ist gut. Hat keine Spuren hinterlassen. Oder die Spuren sind so offensichtlich, daß ich sie übersehe. Wie ein Bild, das man aus zu geringer Entfernung betrachtet. Man sieht nur Pixel, keine Muster.
Neun Stunden und siebenundvierzig Minuten. Die Zeit schmilzt wie Säure durch meine Berechnungen. Durch meine Gewißheiten. Ich spüre ein Pochen in meinem Schädel. Ist es schon da? Das, was FEIND eingepflanzt hat? Ein mikroskopischer Sprengsatz, der durch meine Blutbahn wandert? Ein Nanobotenschwarm, der sich durch meine Synapsen frißt?
Ich schlucke eine Handvoll Aspirin. Die weißen Pillen sehen aus wie kleine Schädel in meiner Handfläche. Manchmal ist eine Kopfexplosion nur eine Kopfexplosion. Manchmal ist Paranoia nur der gesunde Menschenverstand, der zu spät kommt.
Mein Spiegelbild starrt mich an. Ich überprüfe meine Pupillen auf Anzeichen von Vergiftung. Meine Haut auf submikroskopische Einstichstellen. Meine Zähne - FEIND könnte einen Sender implantiert haben, während ich schlief.
Das Telefon vibriert. Sascha. Wieder. Will »helfen«. Will »reden«. Will mich »beruhigen«. Als ob Beruhigung irgendetwas ändern würde an der Tatsache, daß in acht Stunden und dreizehn Minuten mein Bewußtsein wie ein überreifer Granatapfel platzen wird.
Neue Analyse: Was, wenn Sascha Teil des Plans ist? Seine Anrufe - getimed wie ein Metronom. Alle dreißig Minuten. Exakt. Zu exakt? Ein Ablenkungsmanöver? Eine Taktung für irgendeine Art von Signal?
Ich schalte das Telefon aus. Keine externen Störfaktoren mehr. Nur noch ich und die Gleichung. Ich und FEIND. Der ultimative Zweikampf der Gehirne - vorausgesetzt, meins bleibt lange genug intakt.
Eine Welle von Müdigkeit trifft mich wie ein Vorschlaghammer. Sieben Stunden und zweiundzwanzig Minuten. Vielleicht sollte ich mich einfach hinlegen. Die letzten Stunden in würdevoller Meditation verbringen. Den Tod wie ein stoischer Philosoph empfangen. Ein letztes Mal …
NEIN!
Ich schlage mit der Faust gegen die Wand. Der Schmerz ist gut. Real. Fokussierend. Nur Versager bereiten sich auf den Tod vor. Ich bereite mich auf den SIEG vor. Analysiere. Plane. Kämpfe.
Meine Finger fliegen über die Tastatur. Neue Suchmuster. Neue Algorithmen. Die Computer-Lüfter heulen wie kleine Turbinen. Irgendwo in diesen Datenströmen muß die Wahrheit verborgen sein. FEIND hat einen Fehler gemacht. Macht IMMER einen Fehler.
Eine neue Erkenntnis trifft mich wie ein Stromschlag: Was, wenn die Depression selbst Teil des Plans ist? Ein künstlich induzierter Gemütszustand? Chemische Kriegsführung auf Neurotransmitter-Ebene?
Ich reiße das Fenster auf. Die Nachtluft schmeckt nach Ozon und Verschwörung. Über mir pulsieren die Sterne wie kalte LEDs. Überwachungskameras des Universums. Selbst der verfickte Kosmos ist Teil von FEINDs Netzwerk. Aber das macht nichts. ICH BIN VORBEREITET.
Neue Liste. Neue Kategorien. Neue Verbindungen. Das Grundrauschen der Verzweiflung ignorieren. Es ist nur ein weiteres Werkzeug von FEIND. Wie die Zeit. Wie die Logik. Wie die Realität selbst.
Sechs Stunden und fünfundvierzig Minuten. Mein Kopf fühlt sich an wie eine überladene Batterie. Jeder Gedanke ein elektrischer Schlag. Gut so. Solange es brennt, lebe ich. Solange es schmerzt, denke ich. Und solange ich denke, kann FEIND nicht gewinnen.
Sechs Stunden und fünfundvierzig Minuten. Mein Kopf fühlt sich an wie eine überladene Batterie. Jeder Gedanke ein elektrischer Schlag. Gut so. Solange es brennt, lebe ich. Solange es schmerzt, denke ich. Und solange ich denke, kann FEIND nicht gewinnen.
Der Computermonitor beginnt zu pulsieren. Optische Täuschung? Halluzination? Neue Theorie: FEIND sendet Signale per Internet. Kontrolliert die Medien. Kontrolliert die Information. Kontrolliert die … Nein. FOKUS BEWAHREN. Das könnte eine weitere Falle sein. Eine Ablenkung von der eigentlichen Bedrohung.
Ich klappe den Laptop zu, springe auf, gehe ins Bad. Mein Spiegelbild lacht mich aus. Ich werfe die UV-Lampe danach. Das Glas zerspringt in einhundertvierundvierzig Scherben. Ich zähle sie zweimal. Die Zahl muß bedeutsam sein. Muß Teil des Codes sein. Alles ist Teil des Codes.
»Du verlierst den Verstand«, sagt mein Spiegelbild in den Scherben.
»Der Verstand ist eine Fiktion«, antworte ich. »Eine soziale Konstruktion. Ein Kontrollinstrument von FEIND.«
Die Scherben kichern. Ich trete sie unter den Teppich. Keine Zeit für philosophische Debatten mit Spiegelglas. Fünf Stunden und achtundfünfzig Minuten. Der Countdown in meinem Kopf tickt wie eine Atombombe.
Neue Strategie: Wenn FEIND mein Gehirn sprengen will, muß ich schneller denken. Härter denken. MEHR denken. Die neuronalen Bahnen zum Glühen bringen. Vielleicht explodiert FEINDs Plan, bevor mein Schädel es tut.
Schritte im Treppenhaus. Analysiere: Zwei Personen. Unregelmäßiger Rhythmus. Die alte Frau von unten mit ihrer Pflegerin. Oder FEINDs Killertrupp in perfekter Tarnung?
»Guten Morgen, Herr Weber!« Die Stimme der Alten durch die Tür. Zu freundlich. Zu normal. Sie weiß Bescheid. Ist Teil des Netzwerks.
»Morgen«, knurrt Weber zurück. Ich dokumentiere die Uhrzeit ihres Auftretens: 6:17. Die 6 und die 17 ergeben 23. Natürlich. Sie markieren Positionen. Koordinaten. FEINDs Botschafter werden dreister.
Mein Handy summt wieder. Diesmal eine SMS von der Arbeit. »Heute 12 Uhr TelCo. Bitte Präsentation bis dahin fertigstellen.« Unterschrieben von Müller, meinem Chef. Aber seine Syntax ist anders als sonst. Subtile Abweichungen im Satzbau. 0.03% Unterschied zu seinen üblichen Nachrichten. Ich habe alle seine Kommunikationen der letzten drei Jahre analysiert.
Sie haben ihn ersetzt. Oder gehackt. Oder sein Gehirn neu programmiert. Um mich zu verwirren und abzulenken. 12 Uhr TelCo – das kann kein Zufall sein!
Draußen heult eine Sirene. Krankenwagen? Polizei? FEINDs private Armee? Die Töne bilden ein Muster. Morse? Binary? Quantenverschlüsselt?
Ich greife zum Telefon. Rufe die Nummer an, die niemand kennt. Meine Notfall-Hotline.
»Tony’s Pizza, was darf’s sein?«
Der Code ist falsch. Sollte »Tony’s Pizza und Pasta« sein. Und welche Pizzeria geht morgens um acht ans Telefon? SIE HABEN AUCH TONY.
Vier Stunden und dreizehn Minuten. Die Stadt ist längst erwacht und mit ihr FEINDs Agenten. Sie sind überall. In jedem Gesicht. In jedem Signal. In jeder verfluchten Pizzeria.
Ich muß Vorräte besorgen. Energie. Munition für mein Gehirn. Der Supermarkt unten an der Ecke öffnet um sieben. Perfektes Timing für einen taktischen Ausfall.
Die Überwachungskamera über dem Eingang folgt mir. Natürlich. Der Sicherheitsmann nickt mir zu. »Früh unterwegs heute?« Seine Uniformknöpfe reflektieren das Fluoreszenzlicht in präzisen Intervallen. Morsezeichen? Ich nicke zurück. Gebe vor, einer von ihnen zu sein. Ein Schaf unter Wölfen.
Am Kaffeeregal steht Linda aus dem zweiten Stock. Seit wann kauft sie hier ein? Ihr üblicher Laden ist auf der anderen Seite der Stadt. Sie greift nach dem Bio-Kaffee. COLOMBIAN BLEND. Zweiundzwanzig Buchstaben. Wie die Anzahl der Treppenstufen zu meiner Wohnung. Zufall? Wohl kaum.
»Du siehst müde aus«, sagt sie. Ihre Augen scannen mein Gesicht. Sammeln Daten für FEIND.
»Schlecht geschlafen«, murmele ich. Greife nach Energy Drinks. Stapel sie in meinen Korb. Der Typ an der Kasse zieht seine Augenbrauen hoch. Acht Dosen. Acht wie die Oktaven einer Tonleiter. Wie die Beine einer Spinne. Wie die Tentakel von FEINDs Netzwerk.
»Zwölf Euro vierundachtzig«, sagt er. 12:84. Eine Zeit, die nicht exisitiert. FEIND manipuliert die Chronologie!
Zurück in der Wohnung reiße ich die erste Dose auf. Das Zischen klingt wie ein Countdown. Drei Stunden und siebenundfünfzig Minuten. Meine Synapsen brennen. Gut. Laß sie brennen. Ein Feuer kann man nicht sprengen.
Sascha steht vor meiner Tür. Einfach so, unangekündigt. Sein Gesicht durch den Türspion verzerrt wie eine Anamorphose. Eine mathematische Verzerrung, der Goldene Schnitt des Wahnsinns.
»Mach auf, Mann. Ich mach mir Sorgen.«
Natürlich macht er sich Sorgen. Das gehört zum Protokoll. Erst Sorge zeigen, dann zuschlagen. Ich überprüfe die Türkette. Dreifache Verriegelung. Deutsche Wertarbeit gegen FEINDs Infiltration.
»Ich hab Pizza mitgebracht«, sagt er. Wieder Pizza. Zum Frühstück! Das kann kein Zufall sein. Tony’s Code erreicht mich durch Sascha. Oder ist es ein Gegensignal? Eine Warnung von einem anderen Netzwerk?
Die Koffeinwelle trifft mein Gehirn wie ein Vorschlaghammer. Farben werden schärfer. Gedanken schneller. Ich sehe die Verbindungen kristallklar. Der Pizzakarton in Saschas Hand - ein Hexagon aus recyceltem Karton. Sechseckig wie Bienenwaben. Wie das Muster auf FEINDs Nachricht. Wie die molekulare Struktur von …
»Die Pizza wird kalt«, sagt Sascha durch die Tür. Seine Stimme vibriert in der falschen Frequenz.
»Analysiere gerade«, sage ich. Meine eigene Stimme klingt fremd. Zu hoch. Zu schnell. Als hätte FEIND bereits begonnen, meine Stimmbänder zu manipulieren. »Komme zu wichtigen Erkenntnissen.«
»Laß mich rein. Wir reden darüber.«
Reden. Ha! Als ob Worte noch irgendeine Bedeutung hätten. Sprache ist nur ein weiteres Virus in FEINDs Arsenal. Drei Stunden und zwölf Minuten. Tick. Tack. Die zweite Dose Energy zischt in meinen Händen.
Sascha hämmert gegen die Tür. Das Geräusch hallt durch meinen Schädel wie Maschinengewehrfeuer. Ich zähle die Schläge. Sieben. Dann Stille. Sieben wie die Todsünden. Wie die Tage der Schöpfung. Wie die … die Tür SPLITTERT.
Er hat die Kette durchgeschlagen. Unmöglich. Deutsche Wertarbeit. Aber die Physik spielt keine Rolle mehr, FEIND kontrolliert die Naturgesetze.
Sascha steht in meiner Wohnung. Seine Augen sind zu weit offen. Seine Pupillen zu symmetrisch. Ein Bio-Android? Ein Klon? Der echte Sascha würde niemals …
»Heilige Scheiße«, sagt er. Starrt auf die Wände. Auf meine Analysen. Meine Berechnungen. Meine WAHRHEIT. »Was hast du hier gemacht?«
Die dritte Dose Energy explodiert in meinem Magen. Mein Herz rast wie ein Kolibri auf Speed. Die Luft schmeckt nach Metallstaub und Verschwörung.
»Du verstehst das nicht«, sage ich. Meine Stimme klingt wie ein kaputter Synthesizer. »Die Muster. Die Verbindungen. FEIND hat alles infiltriert. Sogar dich. BESONDERS dich.«
»Welcher Feind? Wovon redest du?«
Ich lache. Der Klang zerreißt die Luft wie Glasscherben. »FEIND braucht keinen Namen. FEIND IST der Name. Die ultimative Variable in der Gleichung. Der finale Algorithmus. In zwei Stunden und siebenundvierzig Minuten wird mein Gehirn …«
Sascha greift nach seinem Handy. Seine Finger tanzen über das Display. Morsezeichen? Quantenkommunikation? Ein Signal an die anderen?
»Ich rufe einen Krankenwagen«, sagt er.
Krankenwagen. Natürlich. Der perfekte Trojaner. Wer würde einen Rettungswagen verdächtigen? FEINDs Meisterstück.
»Leg das Telefon weg.« Meine Stimme klingt wie zersplittertes Glas. Der Koffein-Tsunami in meinem Blut läßt die Welt vibrieren. »SOFORT!«
Sascha weicht zurück. Seine Bewegungen sind zu flüssig. Zu präzise. Ein Servomotor-gestütztes Exoskelett unter seiner Haut? »Du brauchst Hilfe«, sagt er. Die Standard-Phrase aus FEINDs Handbuch für synthetische Mitgefühlsbekundungen.
Ich greife nach dem Laptop. Meine letzte Verteidigungslinie. »Sieh dir die Daten an! Die Beweise! In zwei Stunden und dreiundzwanzig Minuten wird mein Gehirn …« Die Worte überschlagen sich. Zu viele Gedanken. Zu viele Verbindungen. Das Universum kollabiert in meinem Frontallappen.
»Beruhig dich«, sagt Sascha. Er macht einen Schritt auf mich zu. Seine Schuhsohlen quietschen auf dem Linoleum. Morse-Code? Binary? Eine weitere Nachricht an die Zentrale?
Die vierte Dose Energy. Meine Hände zittern nicht. Sie VIBRIEREN in der Resonanzfrequenz von FEINDs Masterplan.
»Sie sind schon unterwegs«, sagt Sascha.
Sirenen in der Ferne. Der Sound steigt und fällt wie eine Sinuskurve des Untergangs. Sie haben nur auf das Startsignal gelauert, bestens vorbereitet auf ihren Einsatz. FEINDs mobile Eingreiftruppe. Getarnt als Rettung. Perfide. Brilliant. VORHERSEHBAR.
»Es gibt kein Entkommen«, sagt Sascha. Oder der Ding-der-früher-Sascha-war. Seine Stimme klingt jetzt metallisch. Die Tarnung bröckelt.
Ich lache. Ein Geräusch wie brechendes Glas. »Das denkst DU! Aber ich habe einen PLAN!«
Der Notausgang durchs Badezimmerfenster. Drei Stockwerke bis zum Asphalt. Die Schwerkraft ist auch nur eine weitere Verschwörung von FEIND. Und selbst wenn nicht - besser zerschmettert als gehirngewaschen.
Ich stecke ein Dose in meine Jackentasche, ziehe den Reißverschluß, dann renne ich. Springe. Rolle. Der Aufprall auf dem Müllcontainer sendet Schmerzwellen durch meinen Körper. Reale Schmerzen. Endlich etwas Echtes in dieser Welt aus Lügen.
Sirenen. Näher jetzt. Sascha schreit etwas von oben. Seine Stimme verhallt in den Häuserschluchten wie ein defektes Echo.
Meine Beine tragen mich durch Hinterhöfe. Über Zäune. Durch verlassene Lagerhallen. Die Stadt ist ein Labyrinth aus Beton und Schatten. Perfekt. FEINDs Überwachungssysteme können mich hier nicht …
Ich breche zusammen hinter einem rostigen Container. Eine Stunde und vierundfünfzig Minuten. Der Koffein-Rush bricht ab wie eine Klippe. Realität sickert durch die Risse meiner Berechnung.
Was, wenn … was, wenn ich falsch liege?
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Tränen brennen in meinen Augen. Nicht analysieren. Nicht kategorisieren. Einfach nur … fühlen.
Sascha. Mein Freund Sascha. Seit fünfzehn Jahren. Er hat mir geholfen, als Clara mich verließ. War da, als Mama starb. Und ich habe ihn angesehen wie eine Variable in einer Gleichung.
Die Einsamkeit ist ein schwarzes Loch in meiner Brust. Frißt alle Theorien. Alle Berechnungen. Alle Gewißheiten.
Ein streunender Hund schnüffelt an meiner Hand. Sein Fell ist verfilzt. Seine Augen sind sanft. Kein Agent. Kein Roboter. Nur ein anderes verlorenes Wesen in dieser kalten Stadt.
»Was ist aus mir geworden?«, flüstere ich. Meine Stimme klingt fremd. Menschlich. Zerbrochen.
Eine Stunde und siebenunddreißig Minuten bis zur Explosion. Falls es eine gibt. Falls nicht alles nur in meinem Kopf …
NEIN!
Ich springe auf. Trete nach dem Hund. Der Aufprall meines Stiefels in seinem verfilzten Fell sendet Schockwellen durch mein Bein. Das Tier jault, flieht in die Schatten. Gut. GUT! Keine Schwäche mehr. Keine Sentimentalität. Das ist es, was FEIND will!
»ICH BIN NICHT SCHWACH!«, brülle ich den leeren Himmel an. Meine Stimme hallt von den Betonwänden wider. Ein Schwarm Tauben explodiert von einem Fenstersims. »ICH BIN NICHT EUER VERDAMMTES VERSUCHSKANINCHEN!«
Ich öffne den Reißveschluß, die fünfte Dose Energy. Das Aluminium knirscht in meiner Faust wie ein zerbrechender Schädel. Das Koffein flutet mein System wie flüssiges Nitrogen. Kalt. Klar. KONTROLLIERT.
Neue Analyse. Neue Parameter. Der emotionale Einbruch - ein klassischer Trick. FEIND spielt mit meinen Synapsen. Chemische Kriegsführung. Sie wollen, daß ich schwach werde. Menschlich. BERECHENBAR.
Eine Stunde und dreiunddreißig Minuten. Zeit für den Gegenangriff.
Ich ziehe mein Notizbuch aus der Jackentasche. Die Seiten rascheln wie Maschinengewehrfeuer. Jeder Strich meines Stifts eine Kugel in FEINDs Masterplan. Keine Zeit für Gefühle. Gefühle sind für Menschen, die keine Feinde haben.
»HEY DU ARSCHLOCH!«
Die Stimme kommt aus dem Nichts. Ein Berg von Mann materialisiert sich aus den Schatten. Zwei Meter pure Wut im Holzfällerhemd. Seine Fäuste sind Vorschlaghämmer.
»Ich hab gesehen, was du mit dem Hund gemacht hast!«
Keine Zeit für das hier. Ich muß kalkulieren, analysieren, FEIND bekämpfen … Die Faust trifft mich wie ein Güterwaggon. Sterne explodieren. Das Universum kollabiert in sich selbst.
SCHWARZ.
SCHWARZ.
SCHWARZ.
Realität sickert zurück wie schmutziges Wasser. Mein Kopf ist eine Neutronenbombe. Ich taste nach meinem Handy. Die Zahlen auf dem Display tanzen wie wahnsinnige Mathematik:
11:55
NEIN! NEINNEINNEINNEIN! ES IST FÜNF VOR ZWÖLF!
Eine Stunde bewußtlos. FEIND hat gewonnen. Hat mich ausgeschaltet. Perfekt getimt. Der Holzfäller - ein Agent. Der Hund - ein Köder. Alles Teil des Plans.
Fünf Minuten.
Dreihundert Sekunden bis zur Detonation.
Mein Gehirn rast wie ein überhitzter Reaktor. Zu viele Gedanken. Zu viele Möglichkeiten. Die Welt um mich herum PULST in unmöglichen Farben. Der Asphalt ATMET. Die Häuserwände SCHREIEN.
Letzte Analyse: Wenn mein Gehirn explodieren soll, dann auf MEINE Art. Ich preße die Handballen gegen die Schläfen. DENKEN. Härter denken. Schneller. SCHNELLER! Bis die Synapsen glühen. Bis die Neuronen schmelzen. Bis das Bewußtsein sich selbst überholt.
11:58
Der Himmel dreht sich wie ein defektes Karussell. Meine Gedanken sind Quecksilber. Flüssiges Feuer. Ich bin der perfekte Algorithmus. Die ultimative Gleichung. FEIND kann mich nicht bezwingen, wenn ich …
11:59
Sirenen. Näher jetzt. FEINDs finale Offensive. Aber ich bin bereit. So bereit. Mein Gehirn ist eine Supernova. Eine …
Die Notiz. Die ursprüngliche Nachricht. Wo ist sie? Ich taste panisch meine Taschen ab. Das Papier muß hier sein. Die Beweisstück. Der Auslöser. Der …
Sie ist weg.
NEIN.
Der Zettel ist WEG.
Meine Hände zittern. Zum ersten Mal seit … seit …
12:00
Nichts passiert.
12:01
NICHTS. PASSIERT. GERETTET!
Die Welt dreht sich weiter. Um meinen Schädel. Der intakt ist. Unversehrt. NICHT EXPLODIERT.
Aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wie die Nachricht genau lautete.
War es »explodieren«? Oder »detonieren«? War es überhaupt …
Die Zahlen auf dem Display verschwimmen. 12:01 wird zu 21:10 wird zu … Zahlen. Nur Zahlen.
FEIND … der Name schmeckt fremd auf meiner Zunge. Ein Konzept ohne … ohne was? Da war ein Plan. Eine Theorie. Etwas mit … mit …
Blaulicht flackert über die Wände. Wände? Container? Geometrie verliert ihre … ihre … was ist Geometrie?
Gedanken zerfallen wie nasser Zucker. Süß. Klebrig. Analyse … Ana … was war das Wort?
Ein Mann kommt auf mich zu. Sascha? Nein. Anderer Name. Namen sind … sind … was sind Namen?
Stimmen reden. Worte wie Watte. Weich. Bedeutungslos. Zu laut. Zu … zu … was ist »zu«?
Etwas bewegt sich. Ich bewege mich. Ich? Was ist …
Was …
WEISS.
WEISS-
WEISS
Klarheit.
Frische Gedanken perlen wie Morgentau.
Der Filzstift liegt gut in meiner Hand. Das Papier ist glatt. Die Buchstaben fließen schwarz und perfekt.
»Dein Gehirn wird morgen Punkt 12 Uhr mit einem hübschen Knall in die Luft gehen! Freu dich drauf!«
Das Fahrrad lehnt an der Hauswand. Grün. Verbeult. Der Gepäckträger wartet wie ein offener Briefkasten.
Der Zettel paßt perfekt.
FEIND wird pünktlich sein.
