IDIOTENKLAVIER 2005
Nr. 27
Nr. 27

Sex, Sexta, Subdominas

27. Kapitel - 1971

Bringen wir es mal auf den Punkt: Nach außen erschien ich möglicherweise den meisten als halbwegs normaler Junge, aber in Wahrheit war ich ein total verhaltensgestörtes Kind, ein aggressiver Einzelgänger, der mit 10 Jahren gelegentlich, aber lustvoll in die Hose schiß. Ein Klassenclown, der nichts lieber getan hätte als einfach nur wegzulaufen.

Damals erschien mir die WELT noch als NORMAL, ICH hingegen war ANDERS und deswegen SCHULDIG. Damals war mir noch nicht klar, daß auch in der Welt, in der ich lebte, einiges im Argen lag, daß das NORMALE durchaus verrückt und idiotisch sein kann. Zumal ich den Eindruck hatte, daß es anderen Kindern auch meist nicht besser ging und wir alle in einer Art gefühlloser Zwangsgemeinschaft mit unseren Eltern lebten. Auch wenn nicht alle davon Alkoholiker waren.

Ich war vielleicht clever genug, dieses Anderssein insbesondere vor Erwachsenen halbwegs zu kaschieren, aber das Gefühl totalen Drucks und der Angst vor Entdeckung war immer da, oft ablesbar an Stottern oder unverständlicher Schnellsprecherei.

Vielleicht hat es auch deshalb später so viel Spaß gemacht, meiner Umwelt ihre eigenen Ängste heimzuzahlen, vielleicht verstand ich deshalb oft die Prügel, die ich als Punk von irgendwelchen Schlägern bekam, als BEFREIUNG. Ich versteckte mich nicht länger!

Auch heute noch bringt es bei mir innerlich alles in Bewegung, wenn ich endlich über die vollgeschissenen Unterhosen schreiben darf, über meinen Vater, zerschlitzte Ledersessel und kleine Brandstiftungen.

Ja, die Zeit des Versteckspielens ist endgültig vorbei. Also erzähle ich alles so, wie es erlebt habe und freue mich öffentlich darüber, wie ich es mit Hilfe des Idiotenklaviers der WELT doch noch irgendwie heimzahlen konnte.

Aber bis dahin sollte noch eine Weile vergehen.

Zunächst einmal standen die 70er Jahre an, die die Schwarzweißwelt der 60er endgültig in ein irres Farbenmeer verwandelte. Einen Farbfernseher bekamen wir zwar erst 1972, aber egal: Die Atmosphäre dieser Zeit war eine ganz andere, von Veränderungen geprägt. Es war die Zeit von Teenie-Rock und Ilja Richters DISCO, von Sozialdemokratie und „Rote Armee Fraktion“, die Zeit meiner Pubertät und der Beginn meines Arbeitslebens.

Es war die Zeit meines politischen Erwachens und persönlicher Katastrophen. Der Sprengsatz wurde langsam scharf gemacht, und niemals hätte ich gedacht, daß ein Ausbruch aus meinem Knast je möglich sein würde.

 

Andere Schule, andere Welt

 

Als ich im August 1971 zum ersten Mal den Schulhof des „Carl-Duisberg-Gymnasiums“, kurz CDG genannt, betrat, fühlte ich gleich, daß hier ganz andere Sitten herrschten. Mit einem Mal kam ich mir schrecklich einsam vor. All die unbekannten Gesichter. Keine Griechen. Und manche der älteren Jungs trugen sogar lange Haare.

Ein paar noch aus der Grundschule bekannte Gesichter liefen mir allerdings schon über den Weg. Zum Beispiel Dirk, der zur Fußball-Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko massenhaft heißbegehrte Aufnäher verscherbelt hatte. Oder Karsten, der immer so tat, als würde er mich nicht kennen.

Welche Überraschung, daß unser alter Hausmeister Herr Wirtz nun plötzlich auch hier im grauen Kittel herumrannte! Außerdem verkaufte er in der Pause Süßigkeiten, so daß im CDG der Sprint zum nächsten Kiosk entfiel.

 

Unser Klassenlehrer Herr Genau erklärte uns, daß wir von nun an Sextaner waren, was ich sehr lustig fand.

Schließlich hingen gerade überall diese Plakate zu einer ominösen „Sex-Ausstellung“, die mein Vater so interessant fand.

„Das müssen wir uns ansehen, wenn die sich da so...!“, hatte er gesagt und so getan, als würde er sich in die Brust beißen.

Meine Mutter hatte aber wohl kein Interesse gehabt.

 

Herr Genau trug einen dünnen, um die Gesichtsbegrenzung verlaufenden Bart und warf gerne mit seinem großen Schlüsselbund, um sich die Aufmerksamkeit seiner Schüler zu sichern. Leider landete der Bund nicht immer auf der anvisierten Schulbank, was er ja sollte, sondern manchmal im Gesicht des Schülers.

Herr Genau war kein guter Schütze, kann man wirklich nicht sagen. Eben nicht sehr genau, haha. Guter Witz damals.

 

Im Lateinunterricht riß mich Herr Genaus Schlüsselbund häufig aus meinen Tagträumen, in Geschichte nie. Da ich nämlich mittlerweile die Geschichtsbücher im Dutzend aus der Bibliothek nach Hause schleppte, war ich dem Unterricht immer einen großen Schritt voraus. Griechen, Römer und Germanen rauf und runter, ein eigenes Universum, von dem niemand außer mir Ahnung hatte.

Bis ich dann eines Tages meine große Stunde hatte und im Geschichtsunterricht ausführlich über eine Schlacht Alexanders des Großen dozieren und sie in allen Details erklären konnte. Da war ich 11, und meine Eltern nannten mich mittlerweile „Professor“.

Was ganz gut paßte, so mit Brille eben.

 

Eines Tages war Schluß mit Herrn Genaus Weitwurfübungen. Anweisung von Oben.

 

Meine besten Freunde wurden Gerd, der mit seinen halblangen Haaren exakt so aussah wie sein intellektueller Vater und Jochen, ein schüchterner, freundlicher Junge, der genauso wie Gerd und ich im Sportunterricht überhaupt nichts zu melden hatte.

 

Unser Sportlehrer hieß Pfeffer und wurde beim Unterricht von uns Jungs immer mit rhythmischem Klatschen und „Pfeffer!“-Chören gefeiert, genauso wie die Sport-Helden, wenn sie mal wieder ein Tor geschossen oder den Bock auf eleganten Weise übersprungen hatten.

Bei mir sah das nicht so beeindruckend aus, wenn ich wieder mal auf dem verfluchten Ding steckenblieb, und selbstverständlich war ich auch immer einer der letzten, der ausgewählt wurde, wenn die Supersportler ihre Mannschaften zusammenstellen durften. Im Fußball stand ich meist im Tor oder in der Abwehr, und wenn ich dann tatsächlich mal einen Ball abbekam, gingen auch gleich die „GIB AB!“-Rufe los.

Merkwürdig. Auf der Grundschule hatte ich in Sport immer eine Zwei gehabt, und jetzt war ich plötzlich das Allerletzte. Der Blödmann, den sie auslachten und den außer meinen Freunden niemand ernstnahm.

 

Hinter mir saß die kluge Dörthe, die mit allen konnte und auch so tolle Aufsätze schrieb. Und dann gab es da „Strucki“ und „Sölle“, die zwar echte Sportskanonen waren, aber in anderen Fächern nicht gerade glänzten. Oder Frank „Gerschi“, der zwar auch ein As in Sport war, aber stark stotterte und besonderer Liebling unserer Deutschlehrerin Frau Heimholz war.

 

Frau Heimholz brachte uns erst einmal bei, daß man auf dem Gymnasium nicht mit den Händen Beifall klatschte, sondern dezent und würdevoll mit den Fingerknöcheln auf die Schulbank klopfte, um seine Zustimmung kundzutun.

Einmal zog sie eine Trennlinie mitten durch die Klasse. Und dann sollte die eine Hälfte eben für, die andere gegen etwas argumentieren. Da mußte man dann schon mal für die falsche Sache einstehen, was aber keineswegs geschadet hat.

 

Während in der Grundschule sich der Musikunterricht auf das gemeinsame Absingen irgendwelcher Volkslieder beschränkt hatte, ging es auf dem CDG nun richtig zur Sache. Ganze, halbe, Viertelnoten im Dreivierteltakt, Akkorde und Tonleitern in Dur und Moll. Nichts davon habe ich verstanden.

Und Ralf, unser stilles Musikgenie mit langem Kopf und Unmengen Ohrenschmalz, spielte zur Freude des Musiklehrers Geißler im Unterricht auf dem Klavier.

Herr Geißler hatte auch gleich eine Methode parat, um den Erfolg unserer Bemühungen zu testen.

Da sitzt Herr Geißler am Klavier und sagt: „Alle aufstehen“.

Stehen wir also alle auf. Ist schon klar, was jetzt kommt.

Herr Geißler macht „Pling“ auf dem Klavier.

„Frank?“

„Tonika!“

„Sehr gut. Setzen!“

Wieder „Pling“.

„Peter?“

Mich hat’s erwischt. Tonika, Dominante oder Subdominante? Hm. Die Chancen stehen 1:3.

„... Subdominante...?“

Da muß ich immer an „Suppentante“ denken.

„Falsch. Stehenbleiben!“

Welche Erleichterung, wenn ich dann doch mal richtig lag. Aus dem Schneider!

 

Rechnen hieß ab sofort Mathematik und unser Lehrer war einer, der sogar Bücher darüber schrieb. Herr Stowasser war auch wirklich vernarrt in Zahlen und Operatoren, und er hat das auch mit Begeisterung rübergebracht. Leider verstand ich trotzdem nie viel von seinen unterhaltsamen Ausführungen, auch wenn ich eine Weile davon überzeugt war, meinem Lehrer nachweisen zu können, daß 6 mal 7 ein anderes Ergebnis ergibt als 7 mal 6.

Die öffentliche Beweisführung an der Tafel gelang selbstverständlich nicht und endete im allgemeinen Gelächter. Von da an verschwand die Welt der Zahl mehr und mehr in einem Nebel von Mysterien, der sich nie mehr ganz lichten sollte.

 

Wie ich nun gerade nach über 30 Jahren diesen ganzen öden Schulalltag niederschreibe, überkommt mich ständig ein schlechtes Gewissen, euch damit einfach nur zu langweilen. Verdammt, es war ja schon DAMALS zum Erbrechen langweilig!

Tröstet Euch einfach mit einer alten Volksweisheit, die auch meine Mutter immer gerne zitierte: „Stille Wasser sind tief.“

Oder andersrum: Lustig, was sich aus einigen Elementen dieser Langeweile alles noch entwickeln sollte...

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